VRM Wochenblätter

28.09.21 | Zukunft

Modern zusammen arbeiten wie im Silicon Valley

Arbeiten im Coworking-Space boomt aktuell in Deutschland / Ort für Kreative zum Arbeiten, Netzwerken und Inspirieren

von Alexander Weiß 

 

„The Pier“ residiert im ehemaligen Gebäude der Dresdner Bank auf der Großen Bleiche in Mainz. Foto: „The Pier“

„Doch, was alle Freundschaft bindet, ist, wenn Geist zu Geist sich findet“

so klingt die Poesie Ludwig Uhlands, die nüchtern betrachtet lediglich beschreibt, dass der Mensch eben ein soziales Wesen ist. Dies gilt besonders für sein Tun am Arbeitsplatz, das nicht nur von eigenen kognitiven Fähigkeiten abhängig ist, sondern auch von der Wechselbeziehung unter den Individuen und der Inspiration durch fremde Geisteskraft. 

Das „moderne Büro“

Deshalb ist die Prämisse „Austausch“ auch der Leitgedanke, den Gloria Alvaro für ihre Arbeit nennt. Und sie sagt: „Mein persönliches und berufliches Anliegen ist es, dass Menschen in der Gesellschaft wieder zu Gestaltern ihrer Arbeitswelt werden.“ Die Diplom-Ingenieurin mit Schwerpunkt auf Beratungswissenschaft ist Coach und vor allem Gründerin von Leitwandel Coworking in Wiesbaden. Ihre Branche, die Arbeitsplätze auf Zeit vermietet, boomt auch in der Rhein-Main-Region. Aus dem Englischen übersetzt, bedeutet Coworking schlicht „Zusammenarbeit“. Die im Silicon Valley in Kalifornien entstandene Arbeitsform bezeichnet einen zeitlich flexiblen Arbeitsplatz, den sich mehrere Menschen teilen.

Hierzulande existiert ebenso großer Bedarf an dieser Geschäftsidee. Auch Alvaro ist momentan nahezu ausgebucht. Ihr Coworking-Space – wie man neudeutsch die Gesamtfläche der Arbeitsplätze bezeichnet – umfasst 250 Quadratmeter auf dem Campus der Alten Kliniken in der Schwalbacher Straße in Wiesbaden. Von den 18 Plätzen, die sie anbietet, sind 16 zurzeit vermietet. In den beiden abgeschlossenen Räumen von 90 und 80 Quadratmetern arbeitet ein Teil der heimischen Kreativ-Industrie. Alvaro: „Designer, Filmschaffende, Produktmanager, Texter, Fotografen und Firmenberater teilen sich dort die Räume und machen sie zum idealen Ort, um sich auszutauschen, gegenseitig zu inspirieren und um zu ‚netzwerken‘“. 

Sie nennt ihr Angebot „das moderne Büro“. „Solche Wirkungsstätten sind ideal, um über einen längeren Zeitraum konzentriert zu arbeiten“, meint die Leitwandel-Inhaberin. Die Gesamtfläche, die sie anbietet, teilt sich auf in einen größeren Raum mit freigelegten Dachbalken und in einen offenen Bereich, in dem möblierte Büros als Coworking-Plätze zur Verfügung stehen. Außerdem gibt es dort eine Telefonzelle für Gespräche, die Diskretion erfordern, eine Küche und einen Konferenzraum, in dem visuelle Meetings möglich sind. Einen Arbeitsplatz zu mieten, kostet bei Leitwandel, je nach Dauer, zwischen 260 und 350 Euro pro Monat. Neben Freiberuflern sind Unternehmen, die Räume für ihre ausgelagert tätigen Mitarbeiter suchen, ein wichtiger Kundenstamm für die Coworking-Branche.

Zum Angebot bei Leitwandel gehört auch Weiterbildung: Geschäftsführer und Führungskräfte, die notwendige Veränderungsprozesse initiieren müssen, können sich dort auf diese Aufgabe vorbereiten. Sie erhalten eine Orientierung in Form eines Potenzialchecks, um ihr Unternehmen im aktuellen Wandel zu verorten und die Menschen samt Arbeitsplätze auf neue Aufgaben und die Zukunft vorzubereiten. 

Anlagen im „Heimathafen“…

Fertig ausgestattete Räume für digitale Veranstaltungen mit Kamera-Systemen, Ton- und Lichttechnik, Gigabit-LAN in Wohnzimmeratmosphäre sowie Räume für Besprechungen, Konferenzen und Arbeitskreise gehören zum Angebot des Coworking-Unternehmens „Heimathafen“. Doch vor allem werden in der Wiesbadener Karlstraße Arbeitsplätze für Kreative, Wissensarbeiter und Start-ups vermietet. „Heimathafen“ zeigt sich dabei besonders flexibel. Vollkommene Beweglichkeit garantiert ein Tagesticket für 17,50 Euro. Die Miete für einen Schreibtisch kostet pro Monat 295 (Kündigungsfrist ein Tag), eine Geschäftsadresse 70 Euro. Alle Arbeitsplätze sind komplett eingerichtet und haben Internet, Drucker, Kopierer und Scanner.

…oder an der Pier

Christian Wunsch wollte als Norddeutscher Mainz „ein bisschen näher ans Wasser bringen“, wie er sagt. Doch nicht nur deshalb hat er sein Coworking-Unternehmen, das seit Februar dieses Jahres im ehemaligen Gebäude der Dresdner Bank auf der Großen Bleiche residiert, „The Pier“ genannt. „Ein Pier ist die Erweiterung des Hafens. Genauso verstehen wir unsere Dienstleistung für Kunden, die mit ihrem Business noch nicht fest im Hafen anlegen können und dennoch die volle Infrastruktur nutzen wollen“, erklärt er. In dem prächtigen Adelspalais von 1728 bietet Wunsch auf drei_Etagen Büros, Meetingräume und Lounges auf beeindruckenden 2880 Quadratmetern an. Dort sind – aufgeteilt in 60 Büros – 247 Arbeitsplätze vorhanden. Wunsch kann genau jeweils den Umfang anbieten, den der Kunde benötigt, denn für ihn sei Flexibilität eines der wichtigsten Leistungsmerkmale. Die Unternehmen planen in der Regel pro Mitarbeiter 20 Quadratmeter ein, darin enthalten sind nicht nur der reine Arbeitsplatz, sondern von Flur und Teeküche bis zur Toilette all das, was je Person in Anspruch genommen wird.

Besonders durch Corona habe sich die Standort-Strategie der Unternehmen geändert, sagt Wunsch. Viele Chefs fragten sich, ob sie in Zeiten der Heimarbeit wirklich noch für die Gesamtzahl ihrer Mitarbeiter Arbeitsplätze vorhalten müssten. So mieteten sie beispielsweise fünf bis sechs_Schreibtische für zehn_Mitarbeiter, weil die Hälfte der Angestellten ohnehin von zu Hause arbeite oder mitunter häufig im Außendienst unterwegs sei. Die Büros bei „The Pier“ sind abgeschlossene Einheiten. Sie können genauso für zwei oder für zwölf Mitarbeiter eingerichtet werden.

Wer einfach dorthin kommen will, um Ruhe und Abstand zu genießen oder – ganz im Gegenteil – inspirierende Gemeinschaft sucht, kann sich mit seinem Laptop ein Plätzchen in der Lounge suchen und von dort aus seinen Geschäften nachgehen. Wie an allen anderen Positionen steht dem Nutzer auch dort alles zur Verfügung, was er braucht: Heizung, Wasser, Licht und Strom, Klimatisierung, hochwertige Möbel, Drucker, Scanner, Kopierer und ein schneller Internetzugang. Die Arbeitsplätze werden täglich gereinigt, Betriebs-/Gebäudekosten sind im Preis enthalten. Wer im „Pier“ ankert, kann außerdem die komplett ausgestatteten Küchen und Gemeinschaftsbereiche nutzen, sogar eine Dachterrasse und Fahrradabstellplätze stehen zur Verfügung. 

Weite Räume sorgen für ungezwungene Atmosphäre („The Pier“). Foto: „The Pier“

Für Vorstellungsgespräche, mehrtägige Workshops, Arbeitstreffen oder Präsentationen bietet das Unternehmen vier Meetingräume an. Drei Mitarbeiter kümmern sich ständig um die Versorgung und Ausstattung der gesamten Einrichtung.

Christian Wunsch stammt aus der Branche. Vor seiner Selbstständigkeit arbeitete er für bedeutende Coworking-Anbieter. Heute freut er sich, mit den Großen in Frankfurt mithalten zu können, wie er sagt. Er schätzt, dass er, trotz der beachtlichen Fläche, im nächsten Monat eine Auslastung von 90 Prozent erzielen wird. Bei der Vermietung schlägt er ungewohnte Wege ein. So kann man bei „The Pier“ sogar eine Mitgliedschaft eingehen und erhält damit für 199 Euro im Monat zu jeder Zeit einen Schreibtisch mit voller Ausstattung. Zieht es jemanden für nur einen Tag in die Gemeinschaft, kostet dies 19, ein privat abgeschlossenes Büro 60 Euro. Auch virtuell kann man am „Pier“ anlegen. Die repräsentative Postadresse im Palais an der Großen Bleiche kostet monatlich 89 Euro, eingegangene Sendungen werden verwahrt oder an den Mieter weitergeleitet.

Ein Dorf am Hauptbahnhof

Auch „Das Dorf“ in der Parcusstraße bietet Gemeinschaftsbüros vor allem für Freischaffende an, die vielleicht beruflich eine chronische Vereinsamung befürchten. Gebucht werden die Räume deshalb vor allem von Freelancern, die das Homeoffice hinter sich lassen möchten. Direkt am Mainzer Hauptbahnhof stehen auf 70 Quadratmetern sieben Arbeitsplätze zur Verfügung. Auch dort können alle Coworker eine Gemeinschaftsküche nutzen und einen kleinen Lounge-Bereich. Die freien Plätze werden je nach aktueller Belegung spontan ausgeschrieben und kosten rund um 250 Euro monatlich.

Geinsam frühstücken

Das M1 ist ebenfalls in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs angesiedelt. Es ist Teil von Synthro, einer Genossenschaft, die Menschen für alternatives Wirtschaften begeistern möchte. Im M1 gibt es einen großen offenen Bereich. Dort stehen Flex-Desks und Team-Inseln, die besonders für Start-ups interessant sind. Größere Teams können aber auch private Büros anmieten. Zudem richtet das Unternehmen regelmäßig Veranstaltungen aus. So gibt es zum Beispiel freitags ein gemeinsames Frühstück, das die Kontakte stärken soll. Ein sogenanntes flexibles Desk kostet 220 Euro, ein festes gibt es ab 320 Euro monatlich. Die Kosten für die Teambereiche variieren mit der Fläche und den Arbeitsplätzen.

Treffpunkt bei „Leitwandel“ ist die zentrale Theke. Foto: Roi Camillo

Modern und gleichzeitig rustikal: die Büros von „Leitwandel“. Foto: Roi Camillo

Arbeitsplatz für 300

In den historischen Mauern der Golden-Ross-Kaserne an der Mombacher Straße befindet sich ebenfalls ein modernes Coworking-Space in Mainz. Auf sechs sanierten Etagen des ehemaligen Militärgebäudes arbeiten zurzeit knapp 300 Menschen, Freischaffende und Angestellte. Das modernisierte Innenleben der Kaserne wurde mit viel Glas und modernen Möbeln eingerichtet.

Nach Angaben der Inhaber stehen auch dort der Austausch und das Netzwerken der Coworker im Vordergrund. So gibt es viele Gemeinschaftsflächen und Plätze für Treffen. Private Büros können auch dort in flexibler Größe angemietet werden. Auch große Teams finden im Klinkerbau problemlos eine berufliche Heimat. Zudem können kleine und große Geschäftsveranstaltungen in der Neuen Golden-Ross-Kaserne ausgerichtet werden.

Lesen Sie mehr über das Thema Leben & Zukunft

Musterstadt für die digitale Zukunft

Musterstadt für die digitale Zukunft

„Die Stadt im Wald“, „Stadt der Künste“, „Wissenschaftsstadt“ und – ganz frisch – „Welterbestadt“: Arm an Zusatzbezeichnungen für potenzielles Gedrängel im Briefkopf war und ist die Stadt Darmstadt nicht. Im Juni 2017 war ein weiterer Zusatz hinzugekommen: „Digitalstadt“…

Die kleine, (all-)tägliche Dosis Zukunft

Die kleine, (all-)tägliche Dosis Zukunft

Eine Frage, die sich wohl fast alle Menschen zumindest häufiger stellen, ohne dabei explizit an „Zukunft“ zu denken: „Wie wird denn das Wetter?“ – und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Schließlich möchte man jeden Tag adäquat gekleidet sein, der Landwirt will den Spargel im Frühjahr im richtigen Moment mit der richtigen Folie bedecken,…

Künstliche Intelligenz im Alltag

Künstliche Intelligenz im Alltag

Hessen marschiert schnurstracks in die Zukunft. Auf „Digitales Hessen“ listet das Land auf, was Künstliche Intelligenz heute und in Zukunft kann – und wo sie in Hessen eingesetzt oder entwickelt wird…

VRM Wochenblätter