VRM Wochenblätter

13. Apr 2022 | Gesellschaft

Sportliche Regelhüter und sozialer Kitt

Perspektiven eines Schiedsrichters auf seine Arbeit, Parallelen zur Gesellschaft sowie Sport und Vereinsleben als wichtiger Teil des Alltags

Von Felix Lieb

Und da windet er sich, rollt und rollt und rollt, von Schmerz gequält, über den Rasen, als habe er sich zum Ziel gesetzt, jeden Grashalm einzeln zu berühren: Gesegnet mit einem unglaublichen fußballerischen Können, häufig nur mit unfairen Mitteln zu stoppen, haftet dem sportlichen Nationalhelden Neymar da Silva Santos Júnior, kurz Neymar, mitunter das Attribut der Unsportlichkeit an: Etwa wenn er einen am Boden liegenden Spieler verhöhnt, indem er ihm die helfende Hand zum Aufstehen reicht, sie aber wegzieht, wenn dieser sie zu ergreifen versucht. Oder wenn er, wie in der eingangs erwähnten Situation, von einem Lufthauch angetrieben, über den Rasen pflügt. Ist der Sport also Aushängeschild des Betrugs? Und existieren Parallelen zur Gesellschaft?

Wohlgemerkt: Es gibt auch die andere Seite, in Person jener Spieler wie Miroslav Klose, der die Größe hatte, zuzugeben, einen Ball nicht mit der „Hand Gottes“, sondern mit den eigenen Greifern ins Tor gelenkt zu haben. Als Schiedsrichter der Sportart Badminton erlebe ich bei aller Spannung und Konflikten selbst in den beiden höchsten Spielklassen immer wieder, dass Spieler eine zu ihren Gunsten getroffene Entscheidung ablehnen und mich damit in der Ausübung meiner Tätigkeit unterstützen, auch wenn das heißt, dass sie mich der Fehlbarkeit überführen. Doch niemand ist perfekt. Als Schiedsrichter gehöre ich dazu sicher nicht zu den beliebtesten Akteuren auf dem Feld. Mit der lauthals durch die Halle gejubelten „blinden Sau“ wurde auch ich schon geadelt. Dennoch: Das Bewusstsein der Kontrolle über eine Partie und die Fähigkeit, auch bei einem spannungsreichen Spiel alles im Griff zu haben, mittendrin zu sein, ist ein enorm befriedigendes, anspornendes Gefühl. Und es erfüllt mich mit dem Bewusstsein von Aufgaben, die, genau wie die von Vereinen, von elementarer Bedeutung für das Sportgeschehen aber auch das gesellschaftliche Leben sind.

Stets zwischen den Parteien

Eike Emrich und Vassilios Papathanassiou definieren in ihrem Aufsatz „Der Schiedsrichter als Regelüberwacher und -durchsetzer in der Institution Sportspiel“ den Unparteiischen als Inhaber einer sozialen Position, „die stets zwischen den Parteien steht, die sich in einem wie auch immer gearteten Konkurrenzverhältnis befinden.“ Das hat durchaus Bezüge zum gesellschaftlichen Leben, insbesondere dann, wenn sie den Schiedsrichter als Konstrukteur einer sozialen Realität anerkennen, dessen Aufgabe darin besteht, regelkonformes, regelabweichendes und allgemein abweichendes Verhalten zu unterscheiden. Er sei damit ein „Agent sozialer Kontrolle“.

Schutz vor Unrecht gehört zur den Aufgaben des Schiedsrichters
Foto: Felix Lieb

Keinen Gestaltungsspielraum

Derartige Positionen gibt es auch jenseits der sportlichen Arena in Form von Vermittlern, Moderatoren, Kontrolleuren. Polizisten, Juristen, Schlichter und Schiedsgerichte sind hier als Beispiele in unserem alltäglichen Leben zu nennen. Auch dieses zeichnet sich durch Wettbewerb und das Ringen mehrerer Parteien aus. Da wird nicht immer mit fairen Mitteln gekämpft und es braucht die, die einschreiten. Sicher, derartige vergleichbare Funktionen in Sport und Gesellschaft sind nicht uneingeschränkt deckungsgleich. Nach Emrich und Papathanassiou obliegt es keinem Schiedsrichter im Sport, das Spiel als soziales System selbst zu verändern oder zu verbessern. Er definiert nicht die Regeln oder formuliert neue. Im Vergleich zum Richter, der juristischen Instanz, sorgt der Schiedsrichter im Sport letztendliche nur für die Einhaltung von Regeln und hat wenig oder, so die Autoren, keinen „Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Spielstrukturen“.

Er könne keine Regeln prägen, sondern nur vorhandene anwenden. Ein Vermittler überlasse demgegenüber in der Gesellschaft, so die Autoren, den konkurrierenden Einheiten selbst die Konfliktbeendigungen. Der Schlichter schließlich unterbreitet nur Vorschläge, die zur Beendigung eines Konfliktes beitragen könnten. Unser Alltag ist zudem nicht komplett geprägt von den im Sport so berühmten Tatsachenentscheidungen. Manche Handlungen begründen sich auf längeren Prozessen, einem Abwägen der Situation und ihrer Folgen – und können vereinzelt zurückgenommen werden.

Für Fairness zu sorgen, ist nicht per se die Aufgabe des Schiedsrichters
Foto: Felix Lieb

Emrich und Vassilios Papathanassiou sehen nun zwar in der Schiedsrichteraufgabe m Sport keine ausgleichende Funktion im Sinne der Balance der Kräfteverhältnisse, gleichwohl aber eine „Durchsetzung des ‚Rechts‘ und Schutz des Opfers vor Unrecht“. Bezüge zum gesellschaftlichen Miteinander sind spätestens hier nicht von der Hand zu weisen. Das häufig herangezogene Fair Play ist in diesem Zusammenhang zwar mancherorts eine schöne Vorstellung, aber weder in Sport noch Gesellschaft obligatorisch. Je mehr Wettbewerb herrscht, je mehr die Konkurrenz an Bedeutung gewinnt, desto mehr sind also Institutionen und Personen notwendig, die sich der Überwachung und Einhaltung von Regeln in einem sozialen System verschrieben haben. Dabei geht es im besten Fall aber nicht natürlicherweise um die Einhaltung sozialer Normen, Werte und moralischer Kodizes haben. Dafür sind andere Instanzen prägender. Längst bleibt eine solche Werte- und Verhaltensvermittlung nicht mehr nur dem elterlichen Haushalt vorbehalten. Auch Vereinen  – und längst nicht nur Sportvereinen – kommt hier eine elementare Bedeutung zu.

Vereinsleben vor dem Ende?

Nicht erst seit, aber zu einem nicht unerheblichen Teil durch Corona ist das (Sport-)Vereinswesen in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Infektionsgeschehen und notwendige Abstandsregeln haben gerade im Hallensport eine Ausübung unterschiedlicher Aktivitäten zeitweise unmöglich gemacht. Damit wurde auch das sozial-sportliche Miteinander weitgehend lahmgelegt. Mehr noch: Durch Covid-19 ausgelöste finanzielle Engpässe des einzelnen etwa im Kontext von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und anderen wirtschaftlichen Engpässen führten bei einigen zum Entschluss, mit der sportlichen Aktivität auch den Mitgliedsbeitrag einzusparen. Rund 800.000 Mitgliedschaften, etwa drei Prozent, haben laut dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) die Vereine bundesweit durch Corona verloren. Erlaubte Individualaußenaktivitäten wie Laufen oder Radfahren erlebten einen sichtbaren Zuspruch.

Seit vielen Jahren treten zudem Fitness- oder Gesundheitscenter, die neben Kraftinstrumenten und Laufbändern, auch Badminton-, Tennis- oder Squash-Courts anbieten, in Konkurrenz zu Vereinen. Die sind zwar, aufs Jahr hochgerechnet in der Regel teurer als der anfallende Vereinsmitgliedsbeitrag, erlauben aber eine flexiblere zeitliche Gestaltung der Aktivität im Vergleich zu den starren Übungszeiten im Verein. Drohen Vereine also, ihre Funktion als häufig proklamierter sozialer Kitt der Gesellschaft einzubüßen? Wohl kaum. Ungeachtet einer vielfach schwierigen Gesamtsituation mit finanziellen Engpässen: Viele Vereine haben gerade in der Krise ihre Notwendigkeit für den Zusammenhalt und das Wohl der Gesellschaft unter Beweis gestellt. Erinnert sei nur an die auf regionaler Ebene präsenten virtuellen Fitnessangebote für die für einen langen Zeitraum auf die eigenen vier Wände reduzierte Bevölkerung. So wurde zumindest der Versuch unternommen, das gesundheitliche Wohlbefinden in einer alternativen Gemeinschaftsform via virtuellem Kontakt zu fördern. Nicht nur Vereinsangehörige profitierten von derartigen Angeboten. Und wenn schon kein direktes Miteinander in unmittelbarer Nähe möglich ist, dann zumindest ein Durchbrechen der Isolation per Bildschirmkonferenz.

Vereine sind Kleingemeinschaften, innerhalb derer sich Menschen mit mindestens einem ähnlichen Interesse treffen, nämlich jener Aktivität, welche den Verein oder dessen jeweilige Sparte legitimiert. Innerhalb dieser Gemeinschaften wird soziales Miteinander zelebriert und gemeinschaftliche Werte, Moralvorstellungen und Umgangsformen trainiert. Der spielerische Wettkampf schult den Umgang mit Konkurrenz aber auch das Erreichen von Zielen und bildet mitunter eine Blaupause für gesellschaftlichen und beruflichen Ehrgeiz und das dortige Vorankommen inklusive Aufstieg. Teamgeist und Identifikation gehören daneben zu den weiteren positiven Merkmalen, die in Vereinen vermittelt werden. Dort sind Hierarchien bedingt durch Vereinsstruktur zwar unausweichlich. Im Umkehrschluss heißt dies allerdings auch, dass der Umgang mit derartigen Hierarchien eingeübt, genauso wie der Respekt vor dem Gegenüber gefördert wird.

Vereine als Vorbilder für Inklusion und Integration

Vor allem wird in Vereinen das integrative Moment geschult. Das beginnt beim Miteinander der Generationen und geht weiter mit dem Zusammenspiel von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die Akzeptanz des anderen ist dann im Idealfall Teil der Vereinsarbeit. Und die kann noch viel weiter gehen als über das regelmäßige Trainingsmiteinander. Vorbildhaft sind hier Vereine wie der Mainzer Fußballclub FC Ente Bagdad – nur ein Beispiel von vielen – für den laut eigener Aussage gesellschaftliches Engagement im Vordergrund steht. Durch diverse Aktionen und das Miteinander von Menschen mit Migrationshintergrund lebt er Werte wie Toleranz und Respekt über alle kulturellen, nationalen und religiösen Grenzen hinweg auf vorbildliche Weise vor. Dessen Slogan „You’ll never watschel alone“ verinnerlicht das Miteinander dies und jenseits des Fußballplatzes.

Vereine fördern das Miteinander in der Gesellschaft
Foto: Felix Lieb

Talentförderung und Herausbildung der Besten

Auch Personen mit Behinderungen finden in Vereinen im Idealfall eine Plattform zur Aktivität, gepaart mit gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe. Diese können nicht nur inklusiv als Angebot für eine Gruppe mit ähnlichen Kompetenzen und Einschränkungen funktionieren, sondern eben auch integrativ als gleichberechtigte Eingliederung in das gesellschaftliche Leben – auch wenn derartige Ziele durch ein zuweilen überschaubares Angebot nicht so leicht umsetzbar sind.

Zwar ist es schlussendlich nicht nur beim König Fußball, sondern auch bei anderen Sportarten gang und gäbe, dass für die eigenen sportlichen Höhenflüge der Verein Talente von außerhalb zukauft (was die Fanidentifikation mit ihrer örtlichen Sportgemeinde zuweilen erschwert). Dennoch: Bei allen Vorzügen von Sportparks und anderen Einrichtungen hinsichtlich individualisierter Aktivität findet vornehmlich in Vereinen die Herausbildung der Besten statt, wird Talentförderung und Motivation betrieben, werden zumindest Grundlagen für die sportlichen Eliten geschaffen. Eingebettet in Verbandsstrukturen und mit der Trainingsinfrastruktur bilden Vereine somit die Basis für die weitere Besten-Förderung von Personen, Teams oder Gruppen. So ist es auch möglich, dass Talente wie Neymar oder Klose die Sportwelt beglücken und mithilfe von Vereinen im Sinne des Fairness-Gedankens zu gesellschaftlichen wie sportlichen Vorbildern heranwachsen.

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