VRM Wochenblätter

05.08.22 | Uncategorized

Von A wie Aschenputtel bis Z wie Zombi

Die Phantastische Bibliothek in der Wetzlarer Turmstraße ist die weltweit größte ihrer Art

von Redaktion

Über der Ritterburg schweben so manche phantastische Gestalten.  Foto: Michael Schmutzer-Kolmer

Drachen, Feen, Hexen, Ritter, Vampire, Monster, Außerirdische sind für gewöhnlich in ihren eigenen fremden Welten unterwegs. Alle miteinander verschwimmen am Ende doch in einer einzigen kleinen großen Welt – und die befindet sich ganz real greifbar in der Wetzlarer Turmstraße 20. Denn an diesem geheimnisvollen Ort haust, mit mittlerweile über 300000 Exemplaren bis hin zu Fanzines und Sekundärliteratur, die weltweit größte öffentlich zugängliche Bibliothek mit phantastischer Literatur aus Science -Fiction, Fantasy, Utopien, Horror, Phantastik, Märchen, Sagen, Mythen sowie Reise- und Abenteuerliteratur.

Ein wenig gruselig muss es in der Horror-Abteilung schon sein.  Foto: Michael Schmutzer-Kolmer

„Drachenhöhle“ erstreckt sich über fünf Stockwerke

Schon vor dem Eintauchen in die Bücherwelt werden die großen und kleinen Besucher von drei Drachen, dem Wappentier, an der Hauswand über dem Eingang thronend, empfangen. Vor Betreten weist uns die bibliothekarische Leiterin Maren Bonacker auf eine Besonderheit hin: Man sieht vor dem Gebäude stehend nur zwei Stockwerke. Geht man aber hinein, werden daraus fünf. „Das hängt wohl mit den mystischen Zusammenhängen des Raum-Zeit-Kontinuums zusammen und kann in einer derartigen Bibliothek schon mal vorkommen“ schmunzelt die Literaturpädagogin vielsagend. Der Eingangsbereich mit dem Empfang hinter der schweren Pforte, die noch etwas üben muss, um geheimnisvoll zu knarzen, ist noch recht sachlich gehalten. Ein Hinweisschild, dass selbst Drachen hier nicht rauchen dürfen, darf aber nicht fehlen.

Betritt man jedoch die seitlichen Durchgänge oder wandelt die Treppen hinauf oder herunter, fühlt man sich schnell in andere Welten versetzt.

Schon gleich links im Erdgeschoss ist der Durchgang zum noch relativ neuen und gemütlichen Bilderbuch-Café und das verschafft einen ersten Eindruck von der aufregenden Atmosphäre. Hier können Familien mit kleinen Kindern spielen, auf dem Erdbeersofa oder mit dem großen Schmusebär kuscheln, werkeln oder in der Kinderküche „brutzeln“. Und quasi ganz nebenbei wird zum Lesen angeregt. Im Kinder- und Jugendreich mit dem schönen roten Teppich finden sich neben allerlei geselligen Stofftieren auch ein zum jeweiligen Thema passendes Umfeld. So verwundert es nicht, dass beispielsweise die Bücher über Ritter in einer Ritterburg stehen. „Wir möchten bereits die Kleinen – wir haben oft vormittags Schulen oder Kindertageseinrichtungen im Haus – mit allen Sinnen ins Boot holen und so das Lesen bestmöglich fördern“, erklärt Bonacker.

Märchen- und Sagenraum

Da könnten auch Überraschungen einen Beitrag leisten, um die Neugier zu wecken: So hätten sich schon viele Kinder verblüfft und begeistert gezeigt, dass auch Literatur zum beliebten Erforschungs- und Abenteuercomputerspiel „Minecraft“ vorhanden ist. In den Regalen, dazwischen oder von den Decken schwebend finden sich unter all den Büchern auch immer wieder fabelhafte Figuren oder kultische Kulissen, die perfekt zu den nach Themen oder/und Autoren unterteilten Genres passen. Immer wieder gibt es etwas Neues zu entdecken. Etwa ein riesiges Buch, Knoblauch gegen Vampire oder fantasievoll gestaltete Sitzgelegenheiten.

Ganz unten ins Kellergewölbe herabsteigend passt man besser auf, nicht falsch abzubiegen, denn wo nach links der aktuell mit neuem schönen Boden aufgewertete Märchen- und Sagenraum mit Literatur von Karl-May über die Gebrüder Grimm bis 1001-Nacht existiert, wird man rechts direkt gegenüber mit der Abteilung „Horror“ konfrontiert. Doch keine Angst: Überdimensionale Spinnennetze (Bonacker: Bei uns werden Spinnennetze nicht entfernt, sondern angebracht), angsteinflößende Gesichtsmasken, Fledermäuse oder rote Blutflecken an den Wänden sind nicht echt – so scheint es zumindest. Wer sich für Science-Fiction Serien interessiert, betritt den entsprechenden Raum durch einen kunstvollen Rahmen aus Perry Rhodan-Büchern und bewundert den Stuhl aus Perry-Rhodan Fehldrucken. Hier können auch Star Trek oder Star Wars-Fans in die unendlichen Weiten des Alls entschweben.

Publikum vom Kleinkind bis zum Universitätsprofessor

Apropos entschweben: „Wir sind – wie teilweise noch wahrgenommen – keine irgendwie abgehobene Einrichtung im Elfenbeinturm. Vom Kleinkind bis zum Universitätsprofessor können und sollen sich bei uns alle wohlfühlen und tun es auch“, betont Maren Bonacker. Das Einsatzgebiet der Bibliothek beschränkt sich auch nicht auf das Horten von Büchern.

Pädagogen finden hier Material für den Unterricht, Forscher für ihre Arbeiten. Vor Ort finden immer wieder öffentliche Lesungen oder Workshops statt. Die Einrichtung vergibt zudem Auszeichnungen, seit 1983 bereits auch den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar. Selbstverständlich kann man sich seine spannenden Traumwelten auch mit nach Hause holen. Bis auf einige wertvolle oder Forschungszwecken dienende Exemplare sind die meisten der phantastischen Bücher – übrigens kostenfrei – ausleihbar. Zwar hat man derzeit nur wenige Stunden für „normale“ Besucher(gruppen) geöffnet. Die können aber auch schon mal nach Absprache kommen. Wer noch zögert, die Pforte zur Bibliothek zu passieren, dem sei der Rat von Albert Einstein ans Herz gelegt: „Logik wird dich von A nach B bringen, Fantasie wohin du willst.“

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