VRM Wochenblätter
Schwarz-Weiß–Feuerwerk um 1900
Darmstädter Grafik-Schau führt nach Mittelengland, in das damals größte Industriegebiet der Welt
von Redaktion
Malochen um 1900: „Unlaoding Oranges at London Bridge“ (1909), Frank William Brangwyn Repro: HLMD
„Graphic Revival. Natur, Mensch, Industrie in England um 1900“ steht über der neuen Ausstellung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, die vom 27. Juni bis 29. September in das hochindustrialisierte England der Jahrhundertwende führt. Das Landesmuseum verfügt dank einer großzügigen Schenkung aus dem Jahr 2022 über mehr als 100 Werke der epochemachenden englischen Malerradierer.
Auswahl von rund 70 Arbeiten
Vertreten sind insgesamt 20 Künstlerinnen und Künstler um den gebürtigen Amerikaner James McNeill Whistler (1834 – 1903) und dessen Schwager Francis Seymour Haden (1818 – 1910), einen Londoner Chirurgen, passionierten Künstler und Sammler. Eine Auswahl der besten rund 70 Arbeiten bieten den Besuchern ein atemberaubendes Schwarz-Weiß-Feuerwerk. Die Radierungen zeigen interessante Bezüge zur Industriegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, deren Folgen heute die Menschheit mehr denn je beschäftigen: Dampfmaschine und Schwerindustrie hatten Mittelengland in das „Black Country“ – das größte Industriegebiet der Welt – verwandelt.
Damit begann vor gut 150 Jahren die ungebremste, grenzenlose Ausbeutung fossiler Energien. Die schwarze Kunst des „Graphic Revival“ entstand in einer Zeit als sich die Naturlandschaft mehr und mehr in Industrielandschaft verwandelte. Statt Kirchtürmen beherrschten jetzt Fabrikschlote das Bild, statt einzelner Bauern oder Handwerker jetzt eine anonyme Masse von Lohnarbeitern.
Tiefgreifender Wandel
Wolken entpuppten sich als aus Industrieanlagen aufsteigender Rauch. In den Kompositionen der englischen Künstler wird dieser tiefgreifende Wandel durch die Verwendung starker Gegensätze deutlich. Neben das Schwarz-Weiß oder Hell-Dunkel der Radiertechnik treten Extreme wie Groß und Klein, Leere und Überfüllung, Nähe und Ferne. Die nach Themen gegliederte Darmstädter Ausstellung beginnt mit Natur- und Landschaftsthemen und führt zu Stadtansichten, Porträts und Genreszenen des einfachen Lebens der ländlichen und städtischen Bevölkerung sowie zu frühen Industrielandschaften.
Zwischen Romantik, Symbolismus und Realismus
Die Schau macht auch die enge Verbindung der englischen Künstler zur avantgardistischen Kunstszene in Frankreich spürbar – zu den Landschaftsmalern von Barbizon sowie den Realisten. Wichtigster Orientierungspunkt für Whistler, Haden & Co. war jedoch die Radierkunst Rembrandts: Ihr Kreis war fasziniert von der freien Art des Niederländers, die Radiernadel zu führen. Die Ausstellung bietet deshalb anhand exemplarischer Blätter die einzigartige Chance zum direkten Vergleich mit den wertvollen Radierungen des großen Vorbilds. Diese Technik und mit ihr deren Meister, neben Rembrand noch Goya, war fast vergessen, als sie von den Engländern als künstlerische Ausdrucksform wiederentdeckt wurde, die das ungeheure Potential dieser Technik nutzten und sie zum eigenständigen Zweig der künstlerischen Graphik weiter entwickelten – durchdrungen vom Geist der Romantik und oszillierend zwischen Symbolismus und Realismus.
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