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„Rastlöcher“ mit tödlichem Ausgang

Im Nibelungenlied fällt der Held Siegfried an einem Brunnen einer Intrige zum Opfer. Doch wo genau war der Tatort?

von Redaktion

Wurde Siegfried in Heppenheim ermordet?<br />
Foto: Karl-Heinz Köppner

Trügerischer Frieden: Wurde Siegfried am Brunnen in Heppenheim ermordet?
Foto: Karl-Heinz Köppner

Der Quell des Todes, er könnte im Odenwald liegen. Oder soll man doch besser sagen: die Quelle? Denn mit Wasser hat ein Drama zu tun, das bis heute nachhaltig die deutsche Kultur- und Sagenlandschaft prägt. Und mit einem Brunnen, einem riesig großen Loch, das in der Regel zur Entspannung und Rast einlädt, in jenem besonderen Fall die vermeintliche Unbesiegbarkeit des Helden aber indirekt ad absurdum führt. Dieser Held – oder besser Protagonist, denn nicht alles ist so heldenhaft, was er in Gang setzt – ist ein blonder Schönling namens Siegfried.

Richard Wagner schreckte musikalisch jedenfalls nicht vor ihm zurück und setzte ihm in seinem Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ ein Denkmal. Schwere Kost und nicht unumstritten – wie auch der Komponist selbst. Aber eben berühmt wie das Heldenepos. Und dort spielt ein Brunnen eine tragische Rolle.

Der Autor der ursprünglichen, auf der Nibelungensage basierenden Fassung ist bis heute unbekannt, die Erzählung vielschichtig. Es geht um Liebe und Verrat, um Rache, den Untergang eines kompletten Reiches und das Aufeinandertreffen zweier Erzfeinde. Ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben sich einzelne Versatzstücke. Allen voran Siegfried mit dem blonden Haar, ein Drachenjäger, der das Blut einer solchen Kreatur nicht einfach nutzlos im Boden versickern lässt, sondern darin badet, mit dem nützlichen Effekt der körperlichen Unverwundbarkeit. Na ja fast: Siegfried offenbart eine gewisse Schlampigkeit in der Anwendung, bemerkt das Blatt nicht, das sich auf ein unbehandeltes Stück Haut legt.

Quasi ein Loch in der Unverletzlichkeit. Und davon erfährt Siegfrieds Erzfeind Hagen von Tronje, lockt ihn während einer Jagd an jenen Brunnen, wo dieser seinen Durst stillt, nur um ihm im Moment der Schwäche den Speer in die schutzlose Stelle zu rammen. Nun beanspruchen mehrere Ortschaften, den Tatort des Verbrechens auf ihrem Territorium zu beherbergen, die meisten im Raum Odenwald und der Bergstraße. Zu den geläufigsten gehört die Quelle in einem Waldweg nahe Gras-Ellenbach, einem Ortsteil der Gemeinde Grasellenbach im Kreis Bergstraße.

Dort geht es generell gesundheitsfördernd statt tödlich zu. Denn schließlich gilt Gras-Ellenbach als staatlich anerkanntes Kneipp-Heilbad mit mehreren Kneipp-Anlagen. Ein ansprechendes Hotel mit namentlichem Bezug zur Quelle gibt es auch. Quasi kulinarischer Genuss statt Henkersmahlzeit. Die Quelle des Siegfriedbrunnens ist als solche über eine Inschrift auf einem Steinblock erkennbar. Zugegeben: Ein Beweis für den Standort ist das nicht. Forschungen des Politikers und Altertumsforschers Johann Friedrich Knapp (1776 – 1848) legen es aufgrund einzelner Informationen und Angaben im Nibelungenlied aber nahe. Den dort erwähnten Spehtsharte brachte er mit dem nahe gelegenen Spessartskopf in Verbindung. Dass nun etwaiges dort fließendes Wasser Unsterblichkeit oder zumindest Unverwundbarkeit schenkt, ist unwahrscheinlich. Die einstige Quelle ist versiegt. Das Wasser fließt, wenn überhaupt, von einer städtischen Wasserleitung rüber. Ein paar Widersprüche muss sich Gras-Ellenbach auch gefallen lassen. Die Zeitangaben etwa des Transportes von Siegfrieds Leiche in die Nibelungenstadt Worms sind über die tatsächliche Entfernung zwischen Haupthandlungsort und dem vermeintlichen Tatort nicht abbildbar.

Aber es gibt ja noch ein paar Alternativangebote. Darunter Amorbach, Lautertal und Lindenfels, Letzteres vor allen Dingen durch Professor Albert Ludwig Grimm und den Mainzer Domkapitular Konrad Dahl gestützt. Das dortige Gesteinswerk hört auf den Namen Nibelungenbrunnen. Wobei das mit der Entfernung auch dort ein Problem ist. Julius Reinhard Dieterich aus Darmstadt erkannte in den 1920er Jahren in einem in Heppenheim angesiedelten Lindenbrunnen einen möglichen Platz des Geschehens. Zumindest ist die Nähe zu Worms stimmig. Das erwähnte „Spehtsharte“ könnte hier ein „Spissert“, ein Waldstück in der Gemarkung Viernheim, sein. Verschiedene Interpretationen sehen zudem einen Bezug zum Weschnitzgebiet zwischen Rhein und Odenwald. Und dass sogar in einer der handschriftlichen Überlieferungen das Kloster Lorsch zum Tragen kommt, das eine territoriale Nähe zu Heppenheim aufweist, nährt die Hoffnung der hiesigen Bevölkerung, dass ihre schöne Stadt an der Bergstraße die berühmte Rast- und Ruhestätte beherbergt. Auf ihrem Onlineauftritt spricht die Stadt selbstbewusst von der „stärksten Position in der Diskussion um den echten Siegfriedbrunnen“.

Die Menschen aus Baden-Württemberg können laut bekannten klischeebeladenen Aussagen alles außer Hochdeutsch. Vielleicht haben sie es geschafft, den Körper Siegfrieds innerhalb kürzester Zeit nach Worms zu transportieren. Dann nämlich könnte das eben im Baden-Württembergischen gelegene Odenheim, ein Stadtteil von Östringen im Kraichgau, der „Herbergsort“ des Brunnens sein. Die Wortähnlichkeit zu dem im Nibelungenlied genannten Otenhaim ist jedenfalls frappierend. Andererseits könnte mit Otenhaim auch der heutige Ludwigshafener Stadtteil Edigheim gemeint sein. Der weist jedenfalls eine größere Nähe zu Worms auf, was der Logik des Leichentransportes eher entspricht.

Nun mag sich bei manchen Verwirrung einstellen: Warum beanspruchen Städte, Dörfer und Gemeinden die Existenz eines Brunnens in ihren Gefilden auf der Grundlage einer „sagenhaften“ Erzählung? Drachen gibt es nicht – mal abgesehen von Menschen, die im übertragenen Sinne mit ähnlichen Attitüden uns im Alltag begegnen. Warum soll es dann einen Siegfriedbrunnen geben? Tatsächlich geht man davon aus, dass viele Teile, Personen, Orte, Territorien auf realen Vorbildern basieren. Immer wieder wird das Nibelungenlied mit dem Untergang des Burgunder-Reichs in Zusammenhang gebracht. Und selbst Siegfried hat – zumindest in den Augen mancher Gelehrter – ein reales Vorbild. Vereinzelt geht man davon aus, dass es sich um den Cheruskerfürsten Arminius handelte. Drachen selbst könnten eine Metapher sein. Zumindest bietet es sich an, sich näher mit dem Heldenepos zu beschäftigen. Oder man unternimmt eine Besichtigungstour zu den (möglichen) Brunnen sowie zu den sie beherbergenden Orten. Und das Wasser, das dort fließt, ist nicht tödlich, sondern belebend.

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